Sich nach jemanden oder etwas zu sehnen, ist eine Mischung aus schmerzlichem Vermissen und tiefstem Verlangen. Sie ist mitunter auch eine Art Reflexion dafür, sich mit dem eigenen Leben intensiver auseinanderzusetzen. Von Gabriele Weidinger
Sehnsucht ist ein wunderschönes Gefühl und quälend zugleich. Sie weckt in uns Emotionen und bringt uns mit unseren innersten Wünschen in Kontakt. Oft scheint es, als würden wir uns in Gedanken auf eine Reise nach Unerreichbarem begeben, nach dem, was außerhalb unseres Einflusses liegt.
Sehnsucht entspringt der Erkenntnis, dass etwas in unserem alltäglichen Leben spürbar fehlt. Viele Menschen sehen in der Sehnsucht eine Chance, sich neu auszurichten. Sie nutzen die Sehnsucht als Antrieb, um bis dahin unbekannte Wege zu beschreiten. Für sie ist Sehnsucht die eigene Vorstellung vom idealen Leben.
Andere bleiben in der Sehnsuchtsspirale gefangen und sehen Sehnsucht vielmehr als eine Form der Hoffnungslosigkeit, an der man bisweilen zu scheitern droht. Das Gefühl der Sehnsucht hat also zwei Gesichter: Es macht glücklich und unglücklich zugleich, trifft uns überall und unvermittelt. Sehnsucht kann einen verzehren und gleichzeitig voll und ganz erfüllen. Sehnsucht nimmt Kraft und gibt Stärke im selben Augenblick.
Sie lässt die Zeit stillstehen und ebenso verfliegen. „Der Sehnsuchtsbegriff wird als etwas nicht Greifbares verstanden. Sehnsucht ist, vereinfacht gesagt, all das, was gerade nicht da ist“, so Mag. Michael Stockert, Psychotherapeut aus Langenzersdorf, Niederösterreich. „Das kann zum Beispiel eine bestimmte Person sein, ein spezieller Gegenstand oder global gesehen, ein anderes Leben.“
Stockert weiter: „Wünsche und Träume, die deutlich und bewusst wahrgenommen werden, machen die Gefühle der Sehnsucht erst aus. Einem konkreten Verlangen geht daher immer das Sehnen voraus und ich glaube wirklich, dass es etwas Gesundes ist, eine Sehnsucht, eine Vision für sein Leben zu haben. Ich sehe Sehnsucht sogar als eine Art Grundkraft in uns.“ „Die Formen der Sehnsucht, ihre Intensität können sich im Laufe der Zeit aber auch ändern“, weiß Mag. Stockert aus Erfahrung. „Das hat einerseits mit dem Alter und Entwicklungsstand, andererseits mit der allgemeinen Lebenssituation zu tun“, erklärt der studierte Psychologe.
Was sind die häufigsten Sehnsüchte?
Sehnsucht ist hauptsächlich mit Zielen und Träumen verknüpft. Sie kann daher maßgeblich zur Lebensgestaltung und -bewältigung beitragen und eine richtungsweisende Funktion einnehmen. Gefühle der Sehnsucht treiben Menschen dazu an, Erfüllung und Sinn in Bezug auf grundlegende Lebensthemen wie Liebe, Familie, Gesundheit oder Selbstverwirklichung zu suchen.
Demzufolge zählen vor allem Geborgenheit und Nähe, Freundschaften, körperliches und psychisches Wohlbefinden, beruflicher Erfolg und finanzielle Absicherung sowie Unabhängigkeit, Freiheit und Abenteuer zu den häufigsten Sehnsüchten. Hinter der Sehnsucht stehen bisweilen aber auch existenzielle Bedürfnisse. Gerade Menschen, die nicht ausreichend zu essen oder kein Dach über dem Kopf haben, sehnen sich einfach nur danach, zu überleben. Während der Zeit der Trauer gibt uns die Sehnsucht zudem Hoffnung, irgendwann wieder mit dem geliebten Verstorbenen vereint sein zu können.
Auf diese Weise trägt sie wesentlich zur Verarbeitung des Verlustes bei. Sehnsucht ist für viele Hinterbliebene eines der zentralsten Gefühle am Anfang des Trauerprozesses. „In meiner psychotherapeutischen Arbeit werde ich auch immer wieder mit der Sehnsucht nach der eigenen Identität konfrontiert“, sagt Mag. Michael Stockert. „Genau zu hinterfragen „Wer bin ich? Was macht mich aus? Was will ich?“ halte ich persönlich für sehr wichtig“, ergänzt Stockert.
Kann man Sehnsucht spüren?
Sehnsüchte reißen uns aus der Normalität des Alltags und stürzen uns in ungeahnte Leidenschaften und Fantasien, die manchmal kaum zu bändigen sind. Deshalb wundert es auch nicht, dass Sehnsuchtsgefühle sowohl emotionale als auch körperliche Symptome auslösen können. Physisch zeigt sich Sehnsucht vor allem in Form von Herzrasen, einem Ziehen im Bauch, einem Engegefühl in der Brust und Appetitlosigkeit.
Darüber hinaus kann ein ständiges Denken an das Objekt der Sehnsucht großen Einfluss auf die Schlafqualität haben. Demnach stehen Sehnsuchtsgedanken sehr oft mit Schlafstörungen, also Schwierigkeiten beim Ein- und Durchschlafen, in Verbindung, was die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit tagsüber mitunter spürbar beeinträchtigt.
Der Ruf der Seele.
Sehnsucht kann auch als ungestillter Hunger und Ruf der Seele verstanden werden, der uns an unsere tiefsten Wünsche und Träume erinnert. Im Mittelpunkt steht dabei immer ein „Was-wäre-wenn-Denken“, das manchmal mit der Gegenwart, mit dem Hier und Jetzt, hadert und sehr oft den Blick in die Vergangenheit (Nostalgie) oder Zukunft (Utopie) richtet. Der Ruf der Seele kann uns vor Augen halten, was uns fehlt und ein Gefühl der Leere hinterlassen.
Er kann uns aber auch antreiben, unsere Ziele zu verfolgen und unsere Visionen zu verwirklichen. Sehnsucht ist wie ein imaginärer Raum, vollgefüllt mit Hoffnungen und unbegrenzten Möglichkeiten. Jede Realität wirkt im Vergleich dazu wie eine schlechte Kopie des Machbaren. Viele Künstler und Schriftsteller haben ihre Sehnsucht als Inspiration genutzt. Wie gehen Sie mit Ihren Sehnsüchten um?
Poetische Ansichten
Finden Sie anbei einige Sprüche über Sehnsucht, die das Gefühl poetisch ausdrücken: „In der Sehnsucht liegt die Kraft, unsere tiefsten Träume zu erkennen.“ „Sehnsucht ist ein Spiegelbild unserer verborgensten Gedanken.“ „Sehnsucht ist das leise Flüstern unserer Seele.“ „Oft ist es die Sehnsucht, die uns den richtigen Weg weist.“ „Sehnsucht ist die zarte Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft.“ „Wer sich sehnt, der hofft.“ „Sehnsucht ist ein Koffer voller Wünsche und Träume.“ „Sehnsucht ist jene innere Stimme, die wir hören, wenn wir schweigen.“
In der Psychotherapie wird Menschen u.a. dabei geholfen, ihre Sehnsüchte zu erkennen und zu verstehen. Sie werden angeleitet, Wege zu finden, sich diese Wünsche zu erfüllen beziehungsweise damit klarzukommen. Psychotherapie kann ein kraftvoller Motor für persönliches Wachstum und Veränderung sein und zu einem tieferen Selbstverständnis führen.
Mag. Michael Stockert, Gestalttherapeut, erzählt folgende anonymisierte Fallvignette aus seinem Praxisalltag: „Eva B. kam aufgrund akuter psychogener Weinkrämpfe zu mir in die Praxis. Sie war eine attraktive 34-jährige Frau, die als ersten Eindruck vor allem Souveränität vermittelte. Dennoch prägten mehrere belastende Faktoren ihr Leben, weshalb sie sich letztendlich für eine psychotherapeutische Begleitung entschied.
Frau B. litt seit Kindheitstagen unter dem Einfluss ihrer alkoholkranken Mutter. Das plötzliche, verletzungsbedingte Ende einer aussichtsreichen Karriere im Leistungssport stürzte sie als junge Erwachsene zudem in eine tiefe Krise. In ihrem Job als Büroangestellte fand sie danach wenig Sinn und Zufriedenheit. Außerdem wurden der Druck und das Unverständnis der Vorgesetzten immer unerträglicher. Hinzu kam, dass die Beziehung zu ihrem Mann seit der Geburt des gemeinsamen Sohnes hohl und wenig innig geworden war. Der Verlust von Zärtlichkeiten beschäftigte Eva B. sehr.
In den ersten Wochen der gemeinsamen Arbeit sprachen wir viel über die erlittenen Kränkungen und Enttäuschungen. Nach einiger Zeit legte ich Frau B. den Wechsel in eine wöchentlich stattfindende Gruppentherapie nahe. Schon bald profitierte sie deutlich von der offenen und lebendigen Atmosphäre innerhalb der Gruppe und lernte auch, den aufgestauten Unmut ihrer Mutter und dem Partner gegenüber auszusprechen. Darüber hinaus hinterfragte sie ihre eintönige Arbeit im Büro und stellte sich selbst die Fragen: Wer bin ich? und: Was will ich wirklich?
Je öfter sich Frau B. mit all ihren Themen auseinandersetzte, desto klarer wurde ihr, dass ihr Dasein eine andere Richtung einschlagen musste. Dabei reifte in ihr die Sehnsucht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und an die schönen Erinnerungen des Leistungssports anzuknüpfen.
Nach kurzer, anfänglicher Unsicherheit bezüglich des Verlusts des gesicherten, monatlichen Einkommens, wagte Frau B. schlussendlich den Sprung in die Selbstständigkeit. Sie gründete ihr eigenes, kleines Fitnessstudio und lebt nun für das, wofür ihr Herz schon seit ihrer frühesten Jugend an geschlagen hat: den Sport!
Frau B. hat ihre Sehnsuchtsgedanken in die Tat umgesetzt und ist mittlerweile in der Fitnessbranche gut etabliert. Aus therapeutischer Sicht sind der Aufbau von Sicherheit und der Mut für das Risiko DIE zentralen Herausforderungen gewesen, um die Sehnsucht Realität werden zu lassen.“